Gehe zum Hauptinhalt
Blog
31.07.2017 Digital Recruiting

Vom Algorithmus und Rasiermesser

Von der algorithmenbasierten Auswertung der Bewerbungsunterlagen bis zur vollautomatischen Kommunikation mit Jobinteressenten – die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Personalarbeit sind allenthalben greifbar. Wer im spannenden Wildwuchs des Angebots bestehen will, muss das für sein Unternehmen sinnvolle Recruiting-Set zuschneiden.

Wenn Finanzdienstleister ihren Kunden per Robo Advice die vollautomatisierte Steuerung von Wertpapierdepots anbieten und Künstliche Intelligenz in aller Munde ist, stellt sich die Frage, ob auch unsere Personalabteilungen bereits spürbar von den Möglichkeiten der Digitalisierung profitieren. Zentral ist hier zweifelsohne das Gewinnen neuer Talente. In Zeiten von Digital Natives, Work-Life-Balance-Diskussionen und Vollbeschäftigung ist der „War for Talents“ weit von seiner Befriedung entfernt und jede Unterstützung willkommen. Mit anderen Worten: Wie finden wir motivierte und zur Kultur und Aufgabe passende Zielkandidaten mittels moderner Technik? Und können Recruiter dann bei der finalen Auswahl dank Softwareunterstützung das bis heute vielfach maßgebliche Bauchgefühl ad acta legen?

Vom Zuschnitt auf das Wesentliche

Das Angebot zur technischen Unterstützung der Mitarbeitergewinnung ist beachtlich: Große Teile des Recruitingprozesses können inzwischen digitalisiert abgewickelt werden – von Online-Stellenanzeigen und Mobile Recruiting, über die automatisierte Vorauswahl anhand der Bewerberdaten bis hin zum Erstgespräch via Webcam. Im zunehmend unübersichtlichen Angebot gilt es, frei nach dem Prinzip von Ockhams Rasiermesser auf Entbehrliches konsequent zu verzichten.

Gerade in den frühen Phasen des Recruitings – etwa der bei Bewerbervor-selektion und Kommunikation – können digitale Angebote wertvolle Hilfe leisten

So gibt es eine Reihe sinnvoller Angebote. Die Job-Plattform Truffls hat beispielsweise eine spannende App entwickelt – und etwa IBM vom Einsatz überzeugt – mit der Bewerber und Unternehmen wie bei Tinder durch Profile swipen und bei gegenseitigem Interesse in einen Dialog treten. Hierbei können die Bewerber praktischerweise auf die in sozialen Netzwerken hinterlegten CVs verlinken. Talentwunder oder auch Joberate stellen Arbeitgebern Plattformen bereit, die beim Active Sourcing auf Onlineportalen nach Personen mit passenden Kriterien suchen. Auf Basis von Informationen, die sich aus den Aktivitäten in sozialen Netzwerken ergeben, errechnet die Software hier unter anderem die „Wechselwahrscheinlichkeit“ eines potenziellen Kandidaten.

Zur schnellen Beantwortung von Fragen – gerade am Anfang des Recruitingprozesses – setzen erste Unternehmen bereits Chat-Bots ein. Auf der Facebook-Karriereseite von Porsche zum Beispiel, können Bewerber mit einem digitalen Karriereberater chatten. Der Bot liefert in Windeseile und zu jeder Tages- und Nachtzeit die gewünschten Antworten und verlinkt auf weitere Informationen. Wenn vom Bewerber gewünscht, kann jederzeit die Kontaktaufnahme zu einem „echten Mitarbeiter“ gesucht werden.

Und um insbesondere bei sehr attraktiven Arbeitgebern, wie etwa Google, mit der Bewerbungsflut sinnvoll umzugehen, suchen Software-Algorithmen wie „Robot Recruiter“ bereits erfolgreich nach Keywords in vom Kandidaten eingereichten Unterlagen. Semantische Systeme erweitern die ausgewählten Suchbegriffe autonom um Inhalte mit ähnlichen Bedeutungen und werten so Lebensläufe effizient und frei von psychologisierender Betrachtung des Bewerberfotos aus.
Verbesserungspotenzial besteht hingegen gerade bei onlinebasierten Assessment-Verfahren. Hier ist nicht nur die eingesetzte Diagnostik regelmäßig fragwürdig. Wer daran glaubt, dass ambitionierte Kandidaten die Tests regelmäßig allein vor dem Rechner bestreiten, der sollte sich mal mit Absolventen unterhalten. Tests werden hier eher zu einem Gemeinschafts-Event. Und im Nachgang wird der Segen der Digitalisierung genutzt, um per Screenshot in der Community über die Fragen des Wunscharbeitgebers zu informieren …

Abzuraten ist beispielsweise auch – zumindest zum aktuellen Stand der Technik – von einer Bewertung der Persönlichkeit von Kandidaten nach einer automatisierten Auswertung der verfügbaren Informationen im Internet. Anbieter werten hier Einträge auf Facebook, Instagram und Co. hinsichtlich der „Big 5“ der menschlichen Persönlichkeit aus (Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus). Das Problem: aktuelle Untersuchungen belegen diesen Tools derzeit (noch) eine nur sehr eingeschränkte Validität der Aussage. Mal ganz abgesehen von der Frage, welcher konkrete Bezug zwischen einer bestimmten Persönlichkeitsausprägung und der gewünschten Performance auf der fraglichen Stelle besteht. Ockhams Rasiermesser kann nicht nur hier bis auf weiteres sinnvoll wirken.

Je nach Herausforderung der einzelnen Unternehmung kann die Bewerbersuche heute mittels Software sinnvoll unterstützt oder die Bewerberflut effizient beherrscht werden. Die automatisierte Persönlichkeitsbewertung hingegen steckt noch in den Kinderschuhen und ist mit Vorsicht zu genießen. Dies gilt im Übrigen für sämtliche Land auf, Land ab eingesetzten Persönlichkeitstests, die leider nur selten auf eine wissenschaftlich belegte Fundiertheit verweisen können.

Von der qualifizierten Anforderung, dem Bauchgefühl und der Bewerberperspektive

Wenn die digitalen Errungenschaften uns heute gerade in der frühen Phase des Recruitings hinsichtlich Bewerbervorselektion und Kommunikation sinnvoll unterstützen, kann die Bedeutung eines qualifizierten Anforderungsprofils als Ausgangspunkt einer erfolgreichen Personalsuche nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wer bei seinen Ausschreibungen über Buzzwords wie Teamfähigkeit und Leistungsbereitschaft nicht hinausgeht, wird wenig treffgenau bei der automatisierten Suche nach dem geeigneten Kandidaten agieren.

Solange wir überdies die finale Auswahl eines Bewerbers noch nicht dem Computer überlassen können, müssen wir auch die Güte der eigentlichen Auswahlgespräche im Blick haben: Statt wohlstrukturierter Interviewtechniken befragen hier aktuell noch zu häufig Autodidakten den eigenen Bauch.

Und schließlich darf bei aller Freude über den Segen der Digitalisierung der Bewerber nicht vergessen werden. Während die Vorteile der Automatisierung vornehmlich den Arbeitgebern zu mehr Effizienz verhelfen und Jobinteressenten ohnehin Zugang zu jeglichen Sachinformationen über den potenziellen Arbeitgeber im Netz haben, wünschen sich spannende Bewerber – neben einer zügigen Bearbeitung – vor allem den authentischen und qualifizierten persönlichen Austausch. Nur verständlich, denn von einem Roboter will sich schließlich auch (noch) niemand rasieren lassen.