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Blog
07.10.2019 Agilität

Agile Irrungen und Wirrungen

Während Agilität in der Presse häufig als neues Wundermittel gefeiert wird, um der angestaubten Finanzdienstleistungsbranche neues Leben einzuhauchen, ist die Einstellung in den Führungsetagen deutscher Banken nach unserer Erfahrung noch häufig von Skepsis geprägt. Schuld daran ist nicht selten ein fehlendes Verständnis der zugrundeliegenden Konzepte. Anhand klassischer „agiler Missverständnisse“ möchten wir zum einen zeigen, was zur vermeintlichen Skepsis beiträgt und zum anderen deutlich machen, warum für eine gelungene agile Transformation noch eine ganze Menge Aufklärungsarbeit zu leisten ist.

„Agil“ scheint sich inflationär in den Sprachgebrauch vieler Organisationen geschlichen zu haben: Das Meeting ist „agil“, wenn es keine Agenda gibt. Das Projektteam reagiert „agil“, wenn es keinen Plan hat. Der Workshop ist „agil“, wenn neonfarbene Post-its geklebt werden. Somit entsteht schnell der Eindruck, Agilität sei lediglich ein Buzzword ohne echten Mehrwert. Das hat in einigen Häusern sogar dazu geführt, dass die Verwendung des Begriffs „Agilität“ und all seiner Derivate untersagt wurde.

Viel schlimmer als die inflationäre Verwendung des Begriffes „agil“ ist jedoch das nicht einheitliche und oft fehlerhafte Verständnis, welches hierdurch offensichtlich wird: Unter „agil“ versteht im Zweifel jeder etwas anderes. Dem Duden zufolge bedeutet das Wort „agil“ in der allgemeinsprachlichen Bedeutung „von großer Beweglichkeit zeugend“ oder „regsam und wendig“, mit agilen Konzepten hat das jedoch noch wenig zu tun. Agile Methoden kommen ursprünglich aus der Softwareentwicklung und basieren auf den im „Agile Manifesto“1 formulierten agilen Werten und Prinzipien. Eine Organisation hingegen ist „agil“, wenn die agilen Prinzipien sich im Mindset der Mitarbeiter und damit auch in den Strukturen und Prozessen einer Organisation widerspiegeln. Das Vermischen von agilen Methoden mit dem Konzept der agilen Organisation sowie das allgemein fehlende, einheitliche Verständnis von Agilität führen zu Missverständnissen, Irrtümern und Fehlinterpretationen. Eine fundierte Einschätzung und Bewertung der Einsatzmöglichkeiten für Agilität scheinen auf dieser Basis nur schwer möglich zu sein. Für Agilitäts-Enthusiasten werden Anstoß und Gestaltung des Transformationsprozesses hierdurch erschwert.

Sechs der am weitesten verbreiteten Irrtümer im Kontext Agilität haben wir zusammengestellt – und klären auf:

Nr. 1: „Agilität ist nur etwas für Start-ups/Fintechs/die IT“

Bei dieser Aussage empfehlen wir eine Differenzierung zwischen agilen Methoden und einer agilen Organisation. Während die agilen Methoden ihren Ursprung in der Softwareentwicklung haben, wird das dahinterliegende Mindset zunehmend auf die Art der Zusammenarbeit in Organisationen übertragen. In Abhängigkeit von der Komplexität eines Projektvorhabens ist der Einsatz agiler Methoden (z. B. Scrum, Design Thinking usw.) genau zu prüfen. Die Integration agiler Prinzipien in die Prozesse, Abläufe und Strukturen einer Organisation ist jedoch ohne weiteres möglich, sowohl im Controlling als auch im Vertrieb, im Fintech und einer Regionalbank. Letztlich kann eine Organisation agil sein, ohne agile Methoden einzusetzen. Die grundlegenden, agilen Prinzipien wie Fokussierung auf den Kunden, Stärkung der Zusammenarbeit oder Verkürzung der Entwicklungszyklen können in zahlreichen Organisationen einen wertvollen Beitrag leisten.

Nr. 2: „Wir arbeiten mit Scrum, also sind wir eine agile Organisation.“

Wenn ein Team mit agilen Methoden arbeitet, bedeutet das nicht zwingend, dass agile Prinzipien auch im Rest der Organisation etabliert und verankert sind. Wird eine agile Unternehmenskultur angestrebt, müssen alle Dimensionen einer Organisation, die letztlich Teil der Organisationskultur sind, auf den Prüfstand gestellt werden: Passt der Budgetprozess zu den kurzen Iterationen der Projektteams? Wie sind Mitarbeitergespräche organisiert und ausgestaltet, um die Mitarbeit in selbstorganisierten, crossfunktionalen Teams zu reflektieren? Hat die Organisation eine Fehlerkultur, die ständiges Ausprobieren und Hinterfragen ermöglicht?

Nr. 3: „Wir würden zu viele Mitarbeiter verlieren.“

Für viele Organisationen, insbesondere Finanzdienstleister, bedeutet das Zielbild einer agilen Organisation einen radikalen Umbruch und eine tiefgreifende Veränderung der Unternehmensstruktur. Die Transformation zu einer agilen Organisation ist letztlich jedoch ein klassisches Veränderungsprojekt, das professionell begleitet werden muss. Und wie bei jedem anderen Veränderungsprojekt gibt es die „Early Birds“, die von Anfang an Feuer und Flamme sind, es gibt die Aussitzer und es gibt die Verweigerer. Mittels einer Stakeholderanalyse können die verschiedenen Gruppen innerhalb der Organisation identifiziert werden und im Anschluss konkrete Konzepte entwickelt werden, über welche Maßnahmen die Gruppen in den Veränderungsprozess integriert werden können bzw. welche Inhalte für die Changekommunikation relevant sind. Letztlich ist die Aussicht auf mehr Selbstbestimmung, mehr Verantwortung, flachere Hierarchien und echte Zusammenarbeit in unserer Erfahrung für Mitarbeiter über alle Altersschichten hinweg ein attraktives Zielbild.

Nr. 4: „Agil bedeutet planlos und ohne Struktur“.

Der Einsatz agiler Methoden ist vor allem bei komplexen Projektvorhaben sinnvoll, also dann, wenn es kein klares Zielbild gibt und der Lösungsweg unbekannt ist. Zu Beginn des Projektes gibt es lediglich eine Vision des Endproduktes, die konkreten Ausprägungen werden jedoch iterativ und unter konsequenter Einbeziehung des Kundenfeedbacks erarbeitet. Jede Iteration ist durch ein festes, gleichlanges Zeitfenster gekennzeichnet, indem - basierend auf dem höchsten Kundenwert - die relevanten Ausprägungen bearbeitet werden. Die Basis für die Bearbeitung bildet ein mit den Stakeholdern abgestimmtes Backlog, letztlich das Pendant zu einem Projektplan. Zu Beginn jeder Iteration wird das Backlog überprüft und zum Beispiel auf Basis des Kundenfeedbacks angepasst. Innerhalb einer Iteration sind Endergebnis und Bearbeitungsweg durch das Projektteam klar festgelegt. Das Fehlen einer detaillierten Zweijahresplanung bedeutet somit nicht, dass es in agilen Projekten keine Strukturen gibt. Tatsächlich sind Strukturen und Rollen sowie die konsequente Einhaltung der Zeitfenster je Iteration elementar für den Erfolg einer agilen Methode.

Nr. 5: „Mit Sprints geht alles viel schneller“.

Der Begriff „Sprint“ kommt aus der agilen Methode „Scrum“ und beschreibt das feste Zeitfenster, in dem ein Produkt-Feature erarbeitet wird, meint also keinesfalls, dass das Team schneller arbeitet. Der Eindruck, das Scrum-Team arbeite schneller im Vergleich zu Teams mit einem klassischen Wasserfall-Modell, ist allerdings nicht verwunderlich. In der Planungsphase wird das Endprodukt in einzelne Komponenten zerlegt, die in sich abgeschlossene Features darstellen. Die Entwicklung der einzelnen Features erfolgt entlang der nach Kundennutzen priorisierten Sortierung. Nach einer Iteration ist eine für den Kunden erlebbare (und in der Theorie mehrwertige) Komponente fertig gestellt, das Endprodukt rückt ein gefühltes Stück näher. Das konsequente „Time-Boxing“ führt in der Erfahrung ebenfalls zu einer höheren Ergebnisorientierung, sodass die verfügbare Entwicklungszeit effizienter genutzt wird. Um die Effizienz und Ergebnisorientierung von Projekten zu steigern, muss nicht zwingend mit Scrum nach reiner Lehre gearbeitet werden, einzelne Elemente aus der Methode sind aber dennoch gut übertragbar auf andere Projektsettings.

Nr. 6: „Agilität heißt, wir haben keine Führungskräfte mehr.“

Wird eine Führungsposition neu ausgeschrieben, sind die Anforderungen häufig klar definiert: Gesucht wird nach dem größten Experten oder erfolgreichsten Vertriebler, der gleichzeitig als charismatischer Anführer die Teammitglieder begeistert und mitzieht. Gleichzeitig soll er der „gute Hirte“ sein, der unterstützt, wenn es mal brennt. Und dann soll er natürlich als Trainer seine Teammitglieder in den für ihren Job relevanten Kompetenzen entwickeln. In der Realität sind die Führungskräfte häufig zunächst und vor allem anerkannte Experten in ihrem Gebiet oder erfahrene und erfolgreiche Vertriebler, die Besetzung der übrigen geforderten Dimensionen fällt jedoch schwer. Das ist auch kaum verwunderlich, denn das geforderte Profil entspricht der sprichwörtlichen „eierlegenden Wollmilchsau“. Würde man die Anforderung auf den Fußball übertragen, müsste der Trainer gleichzeitig der Schütze des entscheidenden Elfmeters sein, würde als Mannschaftsarzt den Kreuzbandriss des Spielmachers operieren und als Manager die Finanzplanung des Vereins übernehmen. Die agile Organisation ist nicht frei von Führung, die wesentlichen Elemente werden aber auf mehrere Schultern verteilt: Der Product Owner2 steht im ständigen Austausch mit den wesentlichen Stakeholdern und hält den Arbeitsfortschritt im Team nach. Der Servant Leader2 unterstützt das Team darin, gut zusammenzuarbeiten und die Teammitglieder sind jeweils Experten in ihrem Gebiet.

Fazit

Solange kein einheitliches und differenziertes Verständnis zu Konzepten und Methoden von Agilität in einer Organisation vorliegt, kann auch kein gemeinsames Zielbild entwickelt und der Transformationsprozess nicht gestartet werden. Letztlich muss jede Organisation die konkreten Ausprägungen von Agilität individuell festlegen. Dabei ist es auch vollkommen legitim, sich gegen Agilität zu entscheiden. Aber auch für diese Entscheidung sollte zunächst ein fundiertes Verständnis zu agilen Konzepten und Methoden vorliegen, um die Potenziale von Agilität richtig einschätzen zu können.

Dieser Artikel erschien im Whitepaper zur Agile Banking, im Oktober 2019

1 2001 unterzeichneten 17 projekterfahrene Software-Entwickler das „Manifesto for Agile Software Development“, kurz „Agile Manifesto“, in dem die zentralen Werte agiler Softwareentwicklung festgehalten sind.
2 Bezeichnungen der einzelnen Rollen könnten variieren.